Singen im Chor macht Spaß

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Badische Zeitung vom 08.02.2022

Badische Zeitung 04.02.2022

Sind Männerchöre zum Sterben verurteilt? Nein, es geht um die Erneuerung der Szene: Neugründungen mit jugendlicher Frische und Engagement sind jetzt angesagt

Warum ist die Männerchorwelt morbid?

Vor kurzem hörte ich im Internet Schuberts 23.Psalm «Der Herr ist mein Hirte», gesungen von 60 Männern des National Taiwan University Chorus. Es hat mich schier umgehauen, mit welcher Ausdruckskraft und stilistischer Gewandtheit dieser in Vollendung dargeboten wurde. Besonders beeindruckend fand ich den warmen Sound des Chores, und ein besonderes Phänomen war, dass die deutsche Aussprache besser war, als man es von manchem deutschen Chor hätte hören können. Mit diesem Eindruck habe ich mir Gedanken gemacht, was eigentlich die Männerchorwelt so desolat und morbid werden lässt.

Männerchöre in Deutschland sind schwer überaltert. Anfang des 20. Jahrhunderts war eine Blütezeit für alle Männerchöre, die zum Teil über 100 Sänger hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen Neubeginn dieses Chorwesens und hielt immerhin bis in die Achtzigerjahre. Man hat bis heute leider verpasst, dem Schwund der Sänger entgegenzuwirken und sich um Nachwuchs zu kümmern. Jetzt ist die Situation vielerorts so, dass kein Jugendlicher mehr motiviert werden kann, in solch überalterten Chören mitzuwirken. Hinzu kommt noch die Sturheit mancher Chöre, die sich personell und repertoiretechnisch nicht verändern wollen. Da ist jede Bemühung aussichtslos.

Wie sieht die Männerchorszene heute aus? Ich werde oft zu Konzerten eingeladen, bei denen ich von vornherein weiß, wie das klingen wird, was auf mich zukommt. Peinlich berührt versuche ich mich manchmal vor Beendigung des letzten Stückes möglichst unerkannt aus dem Saal zu stehlen, um zu vermeiden, nachher gefragt zu werden, wie ich es denn so fand. Woran liegt das? Fast alle Männerchöre sind auf ein Existenzminimum von schon unter 20 Mitgliedern geschrumpft. Meist tun sich mehrere Chöre bei Konzerten zusammen. Überleben geht nur noch durch Aufnahme von Sängern aus anderen sich auflösenden Chören. Nur dadurch wird ein Chor leider nicht jünger. Am meisten fällt der Schwund im tenoralen Bereich auf. Hier sind ältere Sänger aufgrund der Höhe maßlos überfordert, weil es die Stimme nicht mehr hergibt. Der Klang wird einfach scheußlich. Was man dann so macht, tun viele Chorleiter, auch ich. Tenor 1 und 2 werden in eine Stimme umgewandelt und tiefer transponiert, sodass ein dreistimmiger Satz entsteht. Aber diese Art der Chorarbeit sind lebensverlängernde Maßnahmen, die nur dazu da sind, den Chor am Leben zu erhalten. Wenn es nicht mehr schön klingt, verliert das Männerchorwesen auch einiges an seinem guten Image. Man spricht immer öfter von einer aussterbenden Epoche. Dem gilt es ganz besonders entgegenzuwirken. So weit, so nicht gut. Die derzeitige Coronapandemie trägt ein großes Stück dazu bei, es den Chören schwer zu machen. Sie sind im Prinzip nicht mehr konzertfähig, möchten aber gerne als Verein zusammenbleiben, denn die soziale Frage ist auch ein wichtiger Aspekt. Langjährige verdiente Sänger aus dem Chor zu entfernen, ist schmerzlich, und eigentlich auch nie gewollt. Die wenigsten Chorleiter tun das.

Auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung

In ländlichen Regionen sieht das Männerchorwesen noch relativ gesund aus. Das liegt vor allem an dem eingeschränkten Freizeitangebot, wo es wenige, aber dafür große Vereine gibt, und sich mehr Leute finden, darin mitzuwirken. Schützenvereine, Bläsergruppen und traditionelles Chorwesen sind in vielen ländlichen Gebieten zu finden. Im urbanen Bereich existiert eher ein Überangebot an freizeitlichen Aktivitäten. Sport- und Kulturveranstaltungen, Ausstellungen und Museumsbesuche sowie ein breiter gefächertes Angebot an abendlichen Unternehmungen sind hier möglich. Auch nimmt die Hast und Eile einer Großstadt viel von der Motivation, sich persönlich noch in Vereinen einzubringen. Jugendliche in Männerchören werden meist nur belächelt und gefragt: «Was willst du denn da?»

Es ist kurz vor zwölf

Was ist nun zu tun? Denken wir doch einfach mal an die 60 jungen Taiwanesen zwischen 18 und 30 Jahren, von denen ich anfangs sprach. Woher kommt hier die Motivation? Wer mit so viel Ausdruckskraft seine Stimme zum Klingen bringt, ist bereits motiviert. Es muss einfach nur jedem Spaß machen, sich in die Gesangswelt mit einzubringen. Es gibt bestimmt viele stimmliche Begabungen, die sich finden könnten, um große musikalische Leistungen hervorzubringen.

Männerchöre mit jugendlicher Frische neu zu gründen, ist hier angesagt. Das gilt nicht nur für die U-Musik, den Jazz- und Pop-Bereich, sondern besonders auch für den klassisch konzertanten. Was ist mit all den berühmten großen Werken aus der Männerchorszene, die heute keiner mehr singt beziehungsweise singen kann? All unsere heutigen Männerchöre kranken an Tenorschwäche und Basslastigkeit. Hinzu kommt ein stimmliches Unvermögen, in höheren Regionen sauber singen zu können. Was will man verlangen von 80-jährigen Sängern? Es geht halt nicht mehr. Aber es ist kurz vor zwölf. Wir müssen uns jetzt etwas einfallen lassen und brauchen jugendliches Engagement. Es geht auch nicht darum, «irgendwas mal eben zu singen». Es geht um die Erneuerung der ganzen Szene, und die muss auch qualitativ hochwertig sein. Hier ist jeder gefragt, der seine Stimme nutzen will, um musikalische Ereignisse stattfinden zu lassen. Den Reiz der Bühne kann nur jeder erfahren, der mal Mahlers 2. Symphonie oder Bruchs «Moses» mitgesungen hat. Das ist ein grandioses Gefühl. Und auch mal Schuberts fantastische Gesänge für Männerchor zu hören, wie es damals der Essener «Schubertbund» so famos gesungen hat. Das soll alles vorbei sein? Es muss eine große Anstrengung stattfinden, um möglichst schnell eine Lobby zu haben, die Männerchorwelt wieder aufleben zu lassen. Hier geht es um die Renaissance einer untergehenden Ära. Packen wir es an, und arbeiten daran. Ich freue mich auf einen Neustart der Männerchorszene.

über den Autor: Ulrich Rasche ist Pianist, Organist und Komponist. Er war an der Clara-Schumann-Musikschule in Düsseldorf von 1977 bis 2020 Dozent für Klavier und Kammermusik. Über Jahrzehnte hinweg hat der studierte Sänger viele Chöre geleitet und ist Beiratsmitglied des Vorstandes des Chorverbandes Düsseldorf.

Quelle: Chorzeit Nr. 90 Februar 2022